Beispiel für ein Stadtquartier mit hocheffizienter Bebauung. © Tiberius Gracchus - stock.adobe.com
Beispiel für ein Stadtquartier mit hocheffizienter Bebauung.

Abwärme versorgt Stadtquartier
Neckarpark Stuttgart gewinnt Nahwärme und -kälte aus dem Abwasserkanal

27.10.2021 | Aktualisiert am: 19.11.2024

Auf der 22 Hektar umfassenden Brachfläche entsteht ein neues Stadtquartier mit energetisch hocheffizienter Bebauung. Als Hauptenergiequelle der Wärme- und Kälteversorgung dient das städtische Abwasser. Die Abwärme wird mittels Rinnenwärmetauscher im Abwasserkanal über ein Niedrigtemperatur-Nahwärmenetz genutzt. Dies ist die Säule des Energiekonzepts für das neue Quartier.

Auf der Brachfläche des ehemaligen Güterbahnhofs Bad Cannstatt entsteht ein neues Stadtquartier für ca. 850 Wohnungen, Hotels, Schulen, Sportstätten, sowie Dienstleistungs- und Gewerbebetriebe. Es soll künftig hauptsächlich mit der Energie des städtischen Abwassers versorgt werden, die mittels Wärmetauscher und kaskadierten Wärmepumpen über ein Niedrigtemperatur-Nahwärmenetz bereitgestellt wird. Künftige Bauherren werden verpflichtet, die Anforderungen des GEG um mindestens 20 % zu unterschreiten (KfW-Effizienzhaus 55). Die Kombination von Niedrigstenergiegebäuden und Abwasserwärme soll ein optimales Gesamtsystem Wärmeversorgung/Gebäude realisieren, das ökologisch und ökonomisch nachhaltig ist.

Der Standort

Zu den bedeutendsten Entwicklungsflächen Stuttgarts gehört das 22 ha große ehemalige Güterbahnhofareal in Stuttgart-Bad Cannstatt. Die Deutsche Bahn nutzte das Gelände bis Ende der 1980er Jahre. Die Stadt Stuttgart kaufte das Areal 2001. 2009 beschloss die Stadt den städtebaulichen Rahmenplan "Neckarpark", der auf den Flächen den Bau von ca. 850 Wohnungen und die Ansiedlung von Dienstleistungsanbietern und Gewerbebetrieben vorsieht.

Die Landeshauptstadt Stuttgart verfügt über 35 Jahre Erfahrung im Energiemanagement stadteigener Liegenschaften, die im direkten Einflussbereich der Kommune liegen. Durch das Energiemanagement wurde der Energieverbrauch der städtischen Gebäude signifikant reduziert. Für den Betrieb und die Planung im Energiebereich wurden energetische Leitlinien entwickelt. Der Anteil an erneuerbaren Energien zur Versorgung der Gebäude wurde kontinuierlich gesteigert. Ein stadtinternes Contractingmodell hilft, Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz umzusetzen.

Ein besonderer Fokus lag in den vergangenen Jahren auch auf dem Bereich Energieforschung. Mit einer Reihe von Projekten war es möglich, den Energieverbrauch bestehender Gebäude deutlich zu reduzieren (bis zu 70 % Primärenergiereduktion). Die so sanierten Pilotprojekte dienen als Demonstrationsobjekt für Planer, Gebäudenutzer und Bauherren. Auch werden die aus den Projekten gewonnenen Erkenntnisse auf andere Vorhaben übertragen und die stadtinternen Anforderungen im Energiebereich entsprechend fortgeschrieben.

Neben den kommunalen Liegenschaften werden bei Neubauvorhaben innerhalb des gesamten Stadtgebiets erhöhte Anforderungen beim baulichen Wärmeschutz (derzeit 30 % unter EnEV 2009) gestellt und vertraglich fixiert, sofern die Bauherren mit der Stadt Verträge abschließen müssen. Über ein städtisches Energiesparprogramm wurden überwiegend im örtlichen Handwerk Gesamtinvestitionen von über 200 Mio. Euro ausgelöst. Private Bauherren im Wohnungsbaubereich werden über das 1999 gegründete Energieberatungszentrum Stuttgart e.V. neutral und kostengünstig informiert. Zum Leistungsspektrum gehören Informationsveranstaltungen, Energiediagnosen und der so genannte Stuttgarter Sanierungsstandard.

Forschungsfokus

Der Neckarpark wird mit Gebäuden realisiert, die aufgrund einer hochwertigen Auslegung der Gebäudehülle und der technischen Ausrüstung nur geringe Energiebedarfe aufweisen und dadurch gegenüber den Vorgaben des GEG deutlich energieproduktiver sind (KfW-Effizienzhäusern 55). Zur Wärmeversorgung bietet sich die Nutzung von Abwärme eines nahegelegenen großen Abwasserkanals an. Selbst bei hoher baulicher Dichte wird dieses Konzept nur zu einer geringen Wärmedichte führen. Klassische Fernwärme mit hohen Vorlauftemperaturen und entsprechenden Leitungsverlusten erweist sich zur Wärmeversorgung solcher Niedrigstenergiegebiete häufig als ineffizient und unwirtschaftlich. Es ist zu befürchten, dass zur Beheizung der Gebäude vorwiegend ineffiziente Einzelfeuerstätten auf Basis von Biomasse oder Luft/Luft-Wärmepumpen realisiert würden. Mit einer solchen Vorgehensweise lässt sich bezüglich Umweltfreundlichkeit und Energieproduktivität in jedem Fall nur ein suboptimales Gesamtsystem Wärmeversorgung/Gebäude erzielen.

Das geplante Vorhaben soll dazu beitragen, die energetische Ausgestaltung des Neckarparks mit einem zukunftsorientierten, integrierten Energiekonzept zu realisieren, das neben energieoptimierten Neubauten ein innovatives neues Nahwärmenetz enthält, welches auf einen hohen Grad der Anwendung von Niedrigexergie und Nutzung lokal verfügbarer Energieträger abzielt. Kernelement ist eine modellhafte Versorgung mit Wärme aus städtischem Abwasser.

Energiekonzept

Die Ausbildung des Neckarparks als Niedrigstenergiegebiet erlaubt, die Vorlauftemperaturen des geplanten Wärmenetzes deutlich abzusenken (45°C oder niedriger). Dies ermöglicht eine großflächige Nutzung der Abwasserwärme. Die Wasserbereitung für Heizzwecke (45°C) sowie die Vorwärmung des Warmwassers kann über einen kaskadierten Wärmepumpenbetrieb erfolgen. Die Wärme wird einem nahegelegenen Abwasserkanal entzogen und über ein Niedertemperatur-Nahwärmenetz verteilt. Zur Nutzung der Abwasserwärme wurden kanalintegrierte Wärmetauscher-Systeme verlegt.

In Kombination von Niedrigstenergiegebäuden und Niedrigexergieversorgung mit regenerativer Energie soll ein optimales Gesamtsystem Wärmeversorgung/Gebäude erzielt werden, das zudem ökologisch und ökonomisch nachhaltig ist. Die Ergebnisse können auch zur flächigen Ausdehnung der Fern-/Nahwärme in Gebieten mit niedriger Wärmedichte genutzt werden.

Performance

Eine Realisierung des Neckarparks als Niedrigenergie-Siedlung erlaubt es, die Vorlauftemperaturen des geplanten (Niedrigtemperatur-) Wärmenetzes deutlich abzusenken (45°C oder niedriger). Dies ermöglicht eine großflächige Nutzung der Abwasserwärme. Dazu sind grundsätzlich unterschiedliche Wärmetauscher-Systeme in der Lage: kanalintegriert und als Bypass. In 2015 entschied sich die Stadt Stuttgart für den Einsatz eines Rinnen-Wärmetauschers, d. h. eines Wärmetauschers im Kanal mit einer Entzugsleistung von 2.100 kW. Die Einsatzbedingung: Die Fließgeschwindigkeit des Abwassers muss ausreichend hoch sein, um Ablagerungen zu verhindern oder sie abzuspülen. Dies setzt ein Gefälle von mindestens 0,1% voraus. Die Energie des Abwassers soll durch den Rinnenwärmetauscher entzogen und in ein Niedrigtemperatur-Nahwärmenetz eingespeist werden. Die Wärme zur Warmwasserbereitung soll nicht wie ursprünglich geplant dezentral über Wärmepumpen, sondern in der Heizzentrale mittels eines Blockheizkraftwerks erzeugt werden. Das Wärmenetz wird mit 4 Leitern ausgeführt: Vor-/Rücklauf Niedertemperatur-Raumwärme und Vor-/Rücklauf Heißwasser zur Warmwasserbereitung. Ein so optimiertes Gesamtsystem „Wärmeversorgung/Gebäude“ mit Einbindung regenerativer Energien könnte auch zur flächigen Ausdehnung der Fern- bzw. Nahwärme in Gebieten mit niedriger Wärmedichte genutzt werden.

Stand der Arbeiten

Im März 2015 wurden Vorplanung und Kostenschätzung abgeschlossen. Die Fertigstellung des Nahwärmenetzes im westlichen Gebiet des Neckarparks erfolgte weitestgehend bis Ende 2018. Die Wärmeversorgung für die ersten drei angeschlossenen Gebäude (errichtet 2018-2019) erfolgt seit 2020 über die inzwischen fertiggestellte Heizzentrale. Die Lieferung und Inbetriebnahme der ersten Wärmepumpe erfolgt Ende 2021. In den Folgejahren erhöht sich sukzessive - abhängig von der Bebauung und Aufsiedlung des Neckarparks - die Anzahl der Wärmeabnehmer.