Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben neues Konzept für flexible und belastungsabhängige Inspektionsintervalle von Kraftwerkskomponenten unter Wechsellast entwickelt. © TÜV Nord
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben neues Konzept für flexible und belastungsabhängige Inspektionsintervalle von Kraftwerkskomponenten unter Wechsellast entwickelt.

Thermische Kraftwerke
Materialbelastung in flexiblen Kraftwerken

19.07.2018 | Aktualisiert am: 13.11.2024

Für klassische Kohle- und Erdgaskraftwerke ändern sich die Einsatzbedingungen durch den Verbund mit den erneuerbaren Energien erheblich. Sie laufen künftig häufiger unter Teillast, weisen erheblich mehr An- und Abfahrzyklen auf und die Komponenten werden nicht ihrer ursprünglichen Auslegung entsprechend belastet. Wissenschaftler haben die thermische und mechanische Belastung dickwandiger Bauteile in Kraftwerken unter den neuen Bedingungen untersucht. Ziel ist, bei gleichem Sicherheitsniveau die Stabilität von Komponenten gegenüber Schädigungen exakter zu berechnen und damit deren Einsatzzeiten wirtschaftlich zu optimieren.

Projektkontext

Dampfkraftwerke auf Basis von Kohle oder Erdgas sind bisher auf möglichst konstante Betriebsphasen mit stabilen Temperatur- und Innendruckverhältnissen ausgelegt. Üblicherweise herrschen im Bereich der Dampfturbinen 540–600 Grad Celsius sowie 240–290 bar. Ein Kraftwerk sollte für den Volllastbetrieb diesen Zielbereich möglichst schonend erreichen und lange einhalten.

Die Energiewende verlangt aber eine deutlich höhere Flexibilität dieser Kraftwerke. Sie stehen im Netz im engen Verbund mit Windparks und Photovoltaikanlagen und müssen den restlichen, durch die erneuerbaren Energien nicht abgedeckten Strombedarf sowie den größten Teil der Systemdienstleistungen zur Netzstabilität decken. In der Folge werden diese Kraftwerke durch häufige Starts und Übergänge in den Teillastbereich beansprucht. Das bedeutet jedes Mal für die Bauteile einen Temperaturwechsel von mehreren hundert Grad in vergleichsweise kurzen Zeiträumen.

Das Schadenstoleranzdiagramm zeigt beispielhaft, wie sich die Restlebensdauer einer Komponente verlängern kann, wenn statt der rein rechnerischen Ermüdungsanalyse das rechnerische Risswachstum hypothetischer Anrisse bei Mustertransienten (rot) bzw. bei Berücksichtigung des tatsächlichen Einsatzprofils des Kraftwerks (blau) zugrunde gelegt wird und in die bruchmechanische Analyse eingeht.

Forschungsfokus

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Forschungsprojekt THERRI die Belastungen durch zyklische Temperaturänderungen unter den veränderten Lastgängen in Kraftwerken untersucht und eine neue Methode zur bruchmechanischen Schadenstoleranzanalyse experimentell und numerisch entwickelt und getestet. Der TÜV Nord hat das Projekt gemeinsam mit der Universität Rostock und dem Forschungszentrum Jülich durchgeführt. Die Praxistests fanden am KNG Kraftwerk Rostock statt. Es wurden lastabhängige Inspektionsintervalle für die Kesselumwälzpumpe und den Überhitzer-Sammler ermittelt.

Innovation

Für Kraftwerke bedeuten die Ergebnisse einen Paradigmenwechsel, weil für die Lebensdauer der Komponenten künftig deren Wechselerschöpfung wichtiger ist als ihre Langzeitstabilität gegenüber Kriechrissen.

Mit Rasterelektronenmikroskop erstellte Vergrößerung der Rissspitze beziehungsweise des rissspitzennahen Bereichs an der Oberfläche der nicht aufgezogenen C (T)-Probe des Schwellenwertversuchs bei 600 Grad Celsius, R = 0,1, f = 20 Hertz unter Wasserdampfatmosphäre.

Ergebnisse

Zentrales Ergebnis ist, dass für den Temperaturbereich bis 550 Grad Celsius die Zuverlässigkeit der angewandten strukturmechanischen Untersuchungsmethode für dickwandige Bauteile mit gekrümmten Oberflächen experimentel, numerisch und im Praxistest am Kraftwerk Rostock bestätigt wurde. Das Konzept bietet fünf Vorteile: Es ermöglicht, Komponenten länger zu benutzen, es trägt zur Optimierung der An- und Abfahrtprozesse bei, es ermöglicht flexible Inspektionsintervalle und längere Prüffristen und es hilft, einen vorzeitigen Austausch von Komponenten zu vermeiden. Im Rahmen der zerstörungsfreien Materialprüfung, einem zentralen Bestandteil des Konzepts, haben sich Ultraschalluntersuchungen bewährt.

Verfahren zur Sicherheitsbewertung

Bisher bewerten die technischen Regelwerke für die Sicherheit von Kraftwerken die Ermüdungslasten rein rechnerisch und gehen dabei von den Randbedingungen des früheren Volllastbetriebs aus. Überschreitet eine Kraftwerkskomponente den zulässigen Wert von 100 Prozent für die Ermüdung, verschärfen sich die Prüfbedingungen. Ab einem bestimmten Schadensbild wird der Komponentenaustausch zwingend. Diese Regelwerke lassen aber bereits als Alternative zur reinen Ermüdungsanalyse differenzierte, betriebsbegleitende Untersuchungsmethoden mit einem erhöhten Umfang an zerstörungsfreien Materialprüfungen zu, wie sie jetzt im Verbund THERRI entwickelt worden sind.

Praxistransfer

Dank der Projektergebnisse lässt sich die Restlebensdauer von zentralen Anlagenkomponenten erstmalig genauer kalkulieren, ohne bei der technischen Sicherheit Abstriche vornehmen zu müssen. Für die wirtschaftliche Kalkulation der Kraftwerksbetreiber sind diese Erkenntnisse wichtig, weil die Anlagen einerseits durch den häufigeren Teillastbetrieb und zahlreiche Stillstände geringere Erlöse erzielen als im Volllastbetrieb und andererseits durch diese Lastwechsel aber höhere Wartungs- und Instandhaltungskosten entstehen. Die Ergebnisse der Untersuchungen flossen in einen neuen Richtlinienentwurf zur „Festlegung von Prüfintervallen für dickwandige Kraftwerkskomponenten mittels einer Schadenstoleranzanalyse“ ein, der dem VGB Power Tech zur Prüfung und Kommentierung vorgelegt wurde.