Wasserstoff in der Stahlindustrie
Der entscheidende Faktor ist jetzt das Tempo
Sebastian Bialek, Dr. Peter Kirchesch Mission Wasserstoff 2030
Im Forschungsprojekt H2-DisTherPro arbeiten vier Projektpartner daran, Haubenglühanlagen mithilfe von grünem Wasserstoff nachhaltiger zu betreiben. Wie das funktioniert und welchen Einfluss der Wasserstoff auf den Prozess hat, erklären die Projektleiter Dr.-Ing. Peter Kirchesch von thyssenkrupp Rasselstein und Dipl.-Ing. Sebastian Bialek vom VDEh-Betriebsforschungsinstitut im Interview.
Die Haubenglühanlage zählt zu den diskontinuierlichen Thermoprozessanlagen in der Stahlproduktion. Sie heizt das Stahlprodukt gezielt auf und wieder ab, um Materialeigenschaften einzustellen. Der Prozess wird in der Regel mit Erdgas betrieben. Aufgrund des hohen Energiebedarfs führt dies auch zu hohen CO2-Emissionen. In H2-DisTherPro wollen die Forschenden nun das Erdgas durch grünen Wasserstoff ersetzen und damit die Emissionen senken.
Welchen Einfluss hat die Umstellung von Erdgas auf grünen Wasserstoff auf den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen?
Kirchesch: Wenn wir den Prozess schrittweise auf Wasserstoff als Brennstoff umstellen, können wir die CO2-Emissionen der Haubenglühen sukzessive reduzieren. Die vollständige Umstellung und Versorgung aller Öfen mit 100 Prozent Wasserstoff führt dann in Zukunft dazu, dass sich CO2-Emissionen vermeiden lassen. Dies ist unser Ziel in H2-DisTherPro und fester Bestandteil der integrierten Transformationsstrategie von thyssenkrupp Steel Europe. Dabei betrachten wir natürlich die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Wasserstoffherstellung und des Transports.
Bialek: Genau, der Einfluss von Wasserstoff hängt entscheidend vom Bilanzierungsraum und den vorgeschalteten Prozessen ab. Grüner Wasserstoff wird in der Wasserelektrolyse gewonnen, die einen Wirkungsgrad von 65 bis 85 Prozent aufweist. Wird der Wasserstoff dann in den Anlagen genutzt, geht weniger Energie im Abgas verloren. Theoretisch lassen sich Energieeinsparungen von vier bis sechs Prozent im Glühprozess annehmen. Ähnlich verhält es sich mit den CO2-Emissionen: Wenn auf Anlagenebene das Erdgas vollständig durch grünen Wasserstoff ersetzt wird, gibt es keine CO2-Emissionen, die mit dem Abgas in die Atmosphäre gelangen. Allerdings muss das natürlich ganzheitlich betrachtet werden. Das bedeutet, die vorgeschalteten Prozesse und die Quelle des elektrischen Stroms müssen in die Betrachtung mit einbezogen werden.
Wie genau erfolgt in der Beheizung die Umstellung auf Wasserstoff?
Bialek: Erdgas und Wasserstoff weisen erhebliche Unterschiede in den physikalischen und verbrennungstechnischen Eigenschaften zueinander auf. Diese Unterschiede müssen in der Anlage, den Brennern, der Zuleitung und der Versorgung abgefangen werden. Aufgrund des unterschiedlichen Energiegehaltes muss zunächst etwa die dreieinhalbfache Menge an Gas zur Verfügung gestellt werden und das stellt entsprechende Anforderungen an die Rohrleitungen. Auch die Gasdruckregel- und Messstrecke muss geprüft und angepasst werden. Diese macht einen wesentlichen Teil der Sicherheitskette aus. Die veränderten verbrennungstechnischen Eigenschaften, wie zum Beispiel Flammengeschwindigkeit und Flammentemperatur, erfordern zudem eine angepasste Brenner- und Wärmerückgewinnungstechnik. Bei Wasserstoff enthält das Abgas kein CO2, dafür aber einen höheren Wasserdampf-Anteil. Dadurch verändert sich der Wärmeübergang im Prozess, was wir durch die Prozessführung berücksichtigen müssen.
Welches CO2-Einsparpotenzial sehen Sie durch grünen Wasserstoff?
Kirchesch: Bei thyssenkrupp Rasselstein werden die direkten Emissionen am Standort maßgeblich durch den Einsatz von Erdgas verursacht. Natürlich entfallen nicht alle Emissionen auf die Haubenglühen — wir sind durch den vollständigen Umstieg auf grünen Wasserstoff jedoch in der Lage, jedes Jahr nachhaltig etwa 17.000 Tonnen CO2-Äquivalent einzusparen. Das entspricht den Emissionen, die jährlich annähernd 5.000 Haushalte durch den privaten Verbrauch von Erdgas verursachen.
Welchen technischen Herausforderungen begegnen Sie bei der Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff in der Haubenglühanlage?
Bialek: Die erste große Herausforderung ist es, die erforderlichen Wasserstoffmengen zu planen und dann auch bereitstellen zu können. Zudem ist es natürlich wichtig, die straff und effizient gestaltete Logistik und Produktion nicht zu stören. Prinzipiell ist Wasserstoff kein Neuland und viele Anbieter haben bereits Wasserstoffprodukte in ihr Programm aufgenommen. Wir müssen aber bestehende komplexe Anlagen auf Wasserstoff umrüsten. Da kommt das Stichwort Retrofitting ins Spiel. Die Anlagen sind speziell auf Erdgas ausgelegt und im Verlauf der vergangenen Jahre optimiert worden. Die größte technische Herausforderung ist es also, mit dem Wasserstoff eine gleichbleibende oder gar bessere Effizienz zu erreichen, bei der auch die Produktqualität gleich bleibt. Parallel dazu dürfen wir keine negativen Effekte wie etwa erhöhte NOx-Emissionen generieren.
Welche Lösungsansätze verfolgen Sie in H2-DisTherPro, um die Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff zu ermöglichen?
Bialek: Im Forschungsprojekt werten wir zunächst die aktuellen und zurückliegenden Gas- und Stromverbräuche aus, um ein Referenzszenario abbilden zu können. Anschließend entwickeln wir mögliche Wasserstoffversorgungskonzepte, die den zu erwartenden Bedarf berücksichtigen. Dazu zählen sowohl Konzepte mit eigenerzeugtem Wasserstoff als auch die öffentliche Versorgung. Im Technikum wollen wir die Brenner mit Erdgas-Wasserstoffgemischen betriebsnah untersuchen. Dabei geht es darum, die maximal zulässige Wasserstoffanreicherung im Erdgas beziehungsweise die maximale Erdgasanreicherung im Wasserstoff zu ermitteln. Mithilfe von CFD-Simulationen übertragen wir diese Ergebnisse weiter auf die Haubenglühe, um die Auswirkungen auf den Prozess abzubilden.
Kirchesch: Unser abschließendes Ziel ist es, ein angepasstes Brennersystem im industriellen Umfeld an einer bestehenden Haubenglühanlage zu erproben. Zu dem erarbeiteten Nutzungskonzept gehört auch das bereits erwähnte Retrofitting der Anlage — das heißt, dass wir die Anschlüsse, die Mess- und Regelungstechnik sowie den Abgasstrang für den Einsatz mit Wasserstoff umrüsten beziehungsweise anpassen.
Sie wollen in H2-DisTherPro die Umstellung schrittweise erforschen, sodass Wasserstoff und Erdgas auch in gemischter Form genutzt werden können. Warum ist es wichtig, den Prozess nicht direkt nur auf Wasserstoff umzustellen und damit zu testen?
Bialek: Die Energieversorgung ist in einem steten Wandel und erfordert gerade in Übergangsbereichen eine hohe Flexibilität. Die Versorgung mit grünem Wasserstoff wird aktuell geplant und an einigen Stellen schon erprobt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass wir nicht an einem Tag X über Nacht von reinem Erdgas zu Wasserstoff wechseln werden. In den nächsten Jahren werden wir zentral oder dezentral dem Erdgas Wasserstoff beimischen. Wird Erdgas durch grünen Wasserstoff ersetzt, werden pro Kubikmeter Wasserstoff bis zu 0,61 Kilogramm CO2 eingespart. Diese Einsparung ist unabhängig vom Anreicherungsgrad und resultiert alleine aus den spezifischen CO2-Emissionen. Wenn wir also schrittweise Erdgas mit Wasserstoff anreichern, können wir damit kurz bis mittelfristig bereits große Einsparungen erreichen. Der Schritt zur vollständigen Dekarbonisierung ist dann technisch nur noch ein kleiner.
Welche Bedingungen muss eine auf Wasserstoff umgestellte Anlage beziehungsweise ein auf Wasserstoff umgestellter Prozess erfüllen?
Kirchesch: Neben Aspekten der Wirtschaftlichkeit gilt es, die Anlagensicherheit und die Produktqualität sicherzustellen. Ein sicherer Betrieb der Anlage unter den veränderten Randbedingungen muss absolut gewährleistet sein. Zudem müssen wir eine gleichbleibend hohe Produktqualität erreichen. Beides spielt eine endscheidende Rolle im Forschungsprojekt H2-DisTherPro.
Können Sie sich vorstellen, dass sich die Ergebnisse von H2-DisTherPro zukünftig auch auf andere Prozesse in der Stahlproduktion oder andere Industriezweige übertragen lassen?
Bialek: Haubenglühanlagen sind in ihrem Aufbau schon sehr speziell, weshalb wir dieses Forschungsprojekt auch als solches gestellt haben. Thermoprozessanlagen sind gemeinhin individuell ausgelegt und unterscheiden sich selbst bei ähnlichen Anwendungen voneinander. Durch die geplanten Arbeitspunkte werden wir aber möglichst generische Vorgehensweisen erstellen, mit denen sich Maßnahmen planen und umsetzen lassen. Die in H2-DisTherPro erarbeiteten Ergebnisse zum Wärmetransport lassen sich beispielsweise auch in Wiedererwärmungsöfen der Schmiedeindustrie anwenden. Die Ergebnisse unserer Brennerversuche können später auch auf ähnliche Brenner übertragen werden. Unsere Projektergebnisse werden also hoffentlich nicht nur in der Stahlindustrie, sondern auch in anderen Industriezweigen Anwendung finden. Zum Beispiel kämen da die Glas- und Keramikindustrie oder der Ziegelindustrie infrage. Dennoch wird es wichtig sein, unterschiedliche Prozesse und deren Eigenarten in weiteren Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu untersuchen.
Sobald die Umstellung technisch möglich ist, welche Voraussetzungen müssen dann noch für den großindustriellen Praxistransfer erfüllt sein?
Bialek: Die CO2-Einsparung hängt — wie erwähnt — von den eingesetzten Wasserstoffmengen und nicht unbedingt vom Anteil im Erdgas ab. Liegt eine ausreichende und wirtschaftliche Wasserstoff-Versorgung vor, kann zunächst damit begonnen werden, Wasserstoff zentral in geringen Anteilen im Werksnetz beizumischen. Hierfür sind nach aktuellem Stand keine technischen Anpassungen notwendig. Welche Maßnahmen im Anlagenverbund für die vollständige Substitution notwendig sind und ob dies an den Bestandsanlagen möglich ist, wird sich in unserem Forschungsprojekt ergeben.
Kirchesch: Wenn wir neben Erdgas auch Wasserstoff als Brennstoff für unsere Haubenglühen einsetzen können, schaffen wir also eine Nachfrage nach grünem Wasserstoff. Für den erfolgreichen Hochlauf ist es dann eine ganz entscheidende Voraussetzung, dass ausreichend grüner Wasserstoff am jeweiligen Standort verfügbar ist.
Was sollte für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft bereits jetzt in Forschung, Industrie und Politik unternommen werden?
Kirchesch: Forschung, Industrie und Politik wissen, dass die Umstellung auf Wasserstoff viele Herausforderungen mit sich bringt — die Dimensionen sind bekannt. Mit Initiativen wie etwa der nationalen Wasserstoffstrategie werden diese bereits adressiert. Der entscheidende Faktor ist jetzt das Tempo. Der Ausbau von Erzeugungskapazitäten und der Infrastruktur muss massiv vorangetrieben werden, damit die enorme Nachfrage nach Wasserstoff zukünftig bedient werden kann. Allein thyssenkrupp Steel Europe wird einer der größten europäischen Abnehmer für Wasserstoff sein.
Bialek: So ist es. Zuallererst muss eine entsprechende Verfügbarkeit von möglichst grünem Wasserstoff gewährleistet sein. Je nach Literaturquelle wird alleine für die deutsche Stahlindustrie ein Wasserstoffbedarf von rund 80 Terawattstunden pro Jahr abgeschätzt. Im Idealfall muss die Wasserstoffversorgung zudem noch wirtschaftlich sein. Wenn wir in der Übergangszeit Erdgas mit Wasserstoff anreichern, muss auf jeden Fall eine entsprechende Messtechnik vorgesehen werden, um die Gasbeschaffenheit und den Wasserstoffgehalt bestimmen zu können. Die entsprechenden Gehalte und deren Eigenschaften müssen natürlich auch reguliert werden, wie aktuell im Arbeitsblatt G260 vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches beschrieben. Hiermit können die Erkenntnisse der laufenden Forschung von den Betreibern direkt umgesetzt werden.
Welche Bedeutung hat ein Forschungsprojekt wie H2-DisTherPro für Ihr Unternehmen sowie die weitere Stahlindustrie?
Kirchesch: Das Forschungsvorhaben ist Teil der umfassenden, langfristigen Dekarbonisierungsstrategie der thyssenkrupp Steel Europe, die neben der Eisen- und Stahlerzeugung auch alle nachgelagerten Produktionsprozesse umfasst. Sie basiert auf der Selbstverpflichtung von thyssenkrupp Steel Europe, bis zum Jahr 2045 komplett klimaneutral zu sein. Die Dekarbonisierung muss dabei über die gesamte Prozesskette erforscht und umgesetzt werden. Daher sind solche Forschungsprojekte unerlässlich, um das Ziel einer klimaneutralen Stahlproduktion zu erreichen.
Das Interview führte Leona Niemeyer, Wissenschaftsjournalistin beim Projektträger Jülich.